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Liebeskummer und Wildschweine

Seit einer Stunde irre ich durch den Balver Wald und suche eine Abzweigung. Inzwischen verfluche ich den Balver Wald und seine Nachkommen bis ins siebte Glied. Links und rechts des schmalen Pfads drängt er sich ins Blickfeld: Er, der Balver Wald, ist hier nicht der lichte Mischwald aus der Outdoorwerbung. Dieser Wald fließt nicht gutgelaunt über Bodenwellen mit gesprenkeltem Lichteinfall durch die Landschaft – das Unterhosenmodel der Tourismusfotos. Nein, der Wanderpfad wird hier begrenzt von struppigem Unterholz und meterhohem nadeligem Dickicht. Das steht so dicht, dass ich versuche mir vorzustellen, wie ein Wildschwein vergeblich versucht, sich da hindurchzuzwängen. Wie schaffen die das? Schaffen die das? Irgendwie scheinen sie, die Wildschweine, sich hier frei zu bewegen, denn weiter oben führt der Weg in eine kreisrunde Lichtung mit Fotofallen und einer großen Suhle in der Mitte. Insgesamt drei Mal bin ich dort herumgeirrt, auf der Suche nach dem Wanderweg. Wer auch immer später die Bilder der Fotofallen durchsieht, wird sich wahrscheinlich über den Städter mit der blauen Regenjacke amüsieren. Am Schluss hatte ich große Lust, in den Salzleckstein in der Mitte der Lichtung zu beißen und prophylaktisch obszöne Gesten in die Kameras zu machen. Vielleicht nehmen die Schweine ja auch selbst lieber den Wanderweg. Vielleicht finde ich hier wieder heraus, wenn ich ein Schwein finde und ihm folge.


Ein Wildschwein in Landschaft
In Balve Fehlanzeige: Wildschweinsichtungen

Eigentlich zeigt mir die Google-Karte eine Abzweigung in der Nähe, die mich dann weiter auf dem von mir gewählten Wanderweg bringen müsste. Wie in Deutschland üblich ist die Auszeichnung der Wanderwege vor Ort wenig hilfreich. Der Klassiker ist die Anbringung des Emblems auf der Mitte einer Weggabelung. Vielen Dank. Eine Freundin aus Tschechien wurde auf ihrer ersten Wanderung in Deutschland angesichts der Wege-Kennzeichnung innerhalb weniger Minuten tobsüchtig und ist seitdem schlecht auf das Thema zu sprechen. So etwas sei in Tschechien undenkbar. Ich bin leider nicht in Tschechien – nehme ich jedenfalls an. Ich weiß nicht genau, wo ich bin, aber Tschechien ist unwahrscheinlich. Andererseits ist schon viel Zeit vergangen. Bin ich schon in Böhmen? Rieche ich Knödel? Mein Akku reicht nicht mehr so lang. Irgendwann finde ich den Weg. Die Google-Karte hatte so einige Wirtschaftswege und kleinere Pfade nicht verzeichnet. Ich konnte also weitergehen. Nur, so konnte es mit mir nicht weitergehen...


Murat Kayı beim Wandern
Hier nach dem Genuss mehrerer Salzlecksteine: Der Autor

Das war 2017. Ein gebrochenes Herz hatte mich unter anderem in den Balver Wald verschlagen. Nachdem ich beim Selbstbemitleiden einen Zustand erreicht hatte, bei dem ich anfing, ins Spülwasser zu heulen, kam ich zum Schluss, dass ich mich dringend um mich zu kümmern hätte. Es fällt mir schwer zu begründen, warum gerade das Draußensein dabei so hilfreich war. Ich lief durch das Münsterland, ich lief durch das Sauerland, ich lief um Dortmund herum. Natürlich war ich die ganze Zeit kein bisschen weniger traurig. Auch die in solchen Fällen vielgerühmte Ablenkung geht eigentlich anders. Damals trank ich beispielsweise noch Alkohol und sprach ihm reichlich zu. Das lenkt ab. Am nächsten Morgen steht man dann allerdings da, wo man vorher stand, nur eben mit Kopfschmerzen. Das Münsterland hingegen wirkt in vielerlei Hinsicht eher ernüchternd. Warum also Wandern? Zunächst einmal ist es gut, sich zu bewegen. Wenn man Glück hat, kommt man dabei sogar innerlich in Bewegung. Aber vor allem hat es eine ungemein tröstliche Wirkung im Wetter zu stehen, egal, wie dieses beschaffen ist. Das Wetter ist ja bei allen möglichen Freizeitaktivitäten eigentlich eine Randerscheinung, die trotzdem oft mitentscheidet, ob die Unternehmung nun ein Erfolg war oder nicht: Du hast aber auch immer ein Pech mit dem Wetter! Beim Wandern wurde ich schon oft dafür belohnt, einfach losgegangen zu sein. Denn durch Regen zu gehen, ist nur anfangs unbequem. Irgendwann ist das Wetter einfach da, wie der Weg unter den Füßen und die Landschaft, durch die man geht. Genau genommen ist das Wetter ein Teil der Landschaft, die ja ihrerseits nie gleich bleibt, obwohl sie immer dieselbe ist. Gerade, wenn man Kummer hat, ist es eine hilfreiche Einsicht, wenn man Regen und Sonnenschein nicht mehr in erwünscht und unerwünscht einteilen muss, sondern einfach zur Kenntnis nimmt – und weitergeht. Und irgendwann ist mir das auch beim Spülen gelungen, ohne dass das Spülbecken wegen Kummers überschwappte.


Nur die Kombination aus Google-Karten und Wildschweinsuhlen konnte wie gesagt so nicht bleiben. Die Maps-App funktioniert gut fürs Auto und ÖPNV, aber fürs Wandern rate ich von Google-Maps ab – es fehlen Details und Kennzeichnungen und im Grunde eine ganze Liste von Informationen, die beim Wandern sehr hilfreich sind, wie zum Beispiel Angaben zur Wegbeschaffenheit.

Ich bin zwar in der Lage, mit Papier und Kompass zu navigieren und würde tendentiell eine mehrtägige Wanderung in unbekanntem Gelände auch eher mit Papier-Backup im Rucksack unternehmen. Aber seitdem ich mich einmal für Komoot begeistert hatte, begleitet mich dessen etwas verschlafen klingende, aber präzise Sprachansage bei fast jeder Wanderung. Es ist nämlich für mich eine der Hauptattraktionen der Software, dass ich gar nicht mehr auf die Karte gucken muss, solange eine Stimme in meiner Brusttasche sagt: „In 80 Metern rechts abbiegen.“

Ja, ich weiß. Dabei kann man doch gar nicht die Natur genießen und was dergleichen Einwände mehr sind. Aber da ich meistens mit meiner Freundin wandere, kann ich nur sagen, dass wir uns seit der automatisierten Navigation auf Wanderungen stundenlang unterhalten können, uns auf die Landschaft konzentrieren oder einfach unseren Gedanken nachhängen, ohne dass jemand den Sextanten hervorkramen muss. Das ist wunderbar. Ich bin seit vielen Jahren begeisterter Nutzer der App und hab mich von komoot schon vertrauensvoll durch felsige Küstenlandschaften, durch die norddeutsche Einöde und ja, auch wieder durch das Sauerland leiten lassen.


Umso schöner ist es für mich, dass ich seit Beginn 2024 als freiberuflicher Collection Editor für komoot arbeiten kann! Ich gestalte Touren, kreiere Sammlungen für Tourismus- und Produktpartner und helfe im Großen und Ganzen einfach mit, die Highlights, Touren und Suchergebnisse zu verbessern. Hier geht es zu meinem Profil! Wenn du auch Komoot-Userin bist, könnten wir uns dort vernetzen. Komoot ist ja auch eine Social-Media-Plattform, die allerdings den Vorteil hat, dass alle, die sich dort tummeln, ein gemeinsames Interesse haben. Und das ist schon einmal mehr, als man beispielsweise über eine FDP-Fraktionssitzung sagen kann!


In diesem Blog wird es immer wieder ums Reisen gehen, um das Wandern, Fahrradfahren, Draußensein, und auch um den Sinn und Unsinn von Fortbewegungsmethoden. Ich gebe keine Reisetipps. Es wird keine Packlisten zu sehen geben. Wenn ich einen Geheimtipp habe, behalte ich ihn für mich. Mir geht es um andere Fragen: Warum will ich wo hin? Was bedeutet meine Anwesenheit an diesem oder jenen Ort für mich und die Menschen vor Ort? Was habe ich mir eigentlich dabei gedacht? Warum finde ich etwas schön oder bewegend? Verändert mich Reisen wirklich? Was bleibt von den schönen Trips und umwerfenden Kulissen?


Aber eins nach dem anderen. Für heute ist nur die Info wichtig: Draußen zu sein, ist heilsam. Ich weiß nicht genau, wieso. Aber vielleicht kriege ich das hier im Blog heraus – auf dem Weg.

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