da wurde mir doch bewusst, was wirklich wichtig ist, im Leben. Und zwar beim Überqueren der Straße. So kann's gehen.
Ich war wirklich grundentspannt unterwegs und hörte ein wenig noch grundentspanntere Musik über Kopfhörer. Als ich die Straße überquerte, wurde ich eines linksabbiegenden Autos gewahr, das den Fußgängerüberweg queren wollte, beziehungsweise von der Fahrerin dazu angehalten wurde zu queren. Das mit dem Anhalten war dann eher widerwillig, muss ich sagen. Es ging beim Abbiegen ein wenig an/aus/an/aus. Der Widerwille bezog sich allem Anschein nach darauf, dass die Fahrerin die Lage sehr treffsicher so einschätzte, dass sie ihre Fahrt nur dann ungebremst würde fortsetzen können, wenn sie mich vermittels des imposant großen Automobils aus dem Weg schübe wie Ungeziefer. Sie kam dann doch zu dem Entschluss, mich die Straße überqueren lassen zu müssen.
Als ich zu zwei Dritteln drüben war, setzte ein Hupkonzert ein. Ich muss sagen, die Hupe hatte was: klar, durchdringend und laut. Ich blieb natürlich stehen, denn Hupen in der Innenstadt bedeutet Alarm, bedeutet Lebensgefahr. Womöglich brauchte jemand meine Hilfe? Ich sah mich um. Da waren aber nur sie und ich. Die Fahrerin schien aufgebracht. Sofort hatte ich mich selbst unter Verdacht, die Grünphase überschritten zu haben, schließlich bin ich auch nicht mehr der Jüngste. Ich schaute also zur Ampel hinauf.
Grün.
Na sowas.
Das konnte ja nur heißen, dass die Fahrerin von der Abendsonne geblendet gewesen und zum Schluss gekommen war, dass ich bereits Rot hätte. Ich suchte Blickkontakt mit ihr und verwies hilfreich auf das immer noch grüne Leuchten für Fußgänger. So bin ich. Wenn ich helfen kann, wieso nicht? Nun machte die Fahrerin aber Bewegungen mit den Armen und dem Mund, wie Kermit in der Muppetshow, wenn die singenden Käse nicht rechtzeitig zum Auftritt erscheinen. Da wurde mir schlagartig klar, was hier los war. Sie war ganz einfach wichtiger als ich. Es war auf den ersten Blick nicht zu erkennen, wieso, aber ich war mir sicher, dass sie eine Notärztin im Einsatz oder im Auftrag der UN unterwegs war. Eine Mission, die keinen Aufschub duldete. Am wahrscheinlichsten schien mir Organtransport.
Ich muss dazu sagen, dass ich, während ich über all diese Dinge nachdenken musste, bedauerlicherweise immer noch im Weg stand. Rückblickend wäre bestimmt auch für sie alles schneller gegangen, wenn sie noch zwei Sekunden aufgebracht hätte und mich nicht durch das Hupen gestoppt hätte, aber so ist das beim Organtransport – da zählt jede Sekunde.
Als ich endlich aus dem Weg war, brauste sie unter großem Reifenabrieb davon. Ich schaute ihr nach und konnte zu meiner großen Überraschung keinerlei Anzeichen von Lebensrettung im Noteinsatz entdecken. War also Organtransport, wenn auch nur ihre eigenen Organe, wie mein Freund Jörn später richtig bemerkte.
Da dämmerte mir, was Meister Eckhart meinte, als er uns ermahnte: Immer ist der wichtigste Mensch, der dir gerade gegenübersteht.
Comments